In Memoriam Professor Hans Wilderotter

Rote Mohnblume ragt über ein reifendes Gerstenfeld. Ihre Farbe steht im deutlichen Kontrast zum blauen Himmel, an dem einige Wolken zu sehen sind. Foto von Angela Kipp

Ich habe sicherlich zehn volle Minuten auf die Nachricht einer ehemaligen Studienkollegin in meinem Postfach gestarrt und konnte es trotzdem nicht fassen. Hans Wilderotter ist verstorben, plötzlich und unerwartet. Ich denke, für mich wäre es immer plötzlich und unerwartet gewesen. Er gehörte zu diesen Menschen, an die ich häufig denke und bei denen der Gedanke, dass sie irgendwann schlicht nicht mehr da sein könnten einfach nicht aufkommt.

Während ich das schreibe, habe ich ein sehr lebendiges Bild im Kopf: Er kommt von irgendwo her, vermutlich zu spät, der Trenchcoat und die Haare flattern im Wind, Aktentasche in der Hand, Zigarillo im Mund und noch ehe er richtig da ist, fängt er schon an zu reden. Vermutlich ist der Einstieg die Geschichte, warum er zu spät kommt. Es ist vermutlich der ewige Kampf mit den Widrigkeiten des öffentlichen Nahverkehrs oder aber ein Ausstellungsprojekt in dem mal wieder etwas auf ungewöhnliche und entweder absehbare oder unabsehbare Weise schief gelaufen ist. Und er erzählt das so unterhaltsam, dass man ihm schon nach den ersten paar Sätzen die Verspätung beim besten Willen nicht mehr übel nehmen kann und nur noch fasziniert zuhört.

Hans Wilderotter war für mich viel mehr als nur einer unter vier Professoren im Studiengang Museumskunde an der HTW Berlin, er war, im besten Sinne, ein Lehrmeister. Ich denke, ich habe nie wieder einen Menschen getroffen, der über so viele Dinge so viel wusste. Man konnte sich für die abseitigsten Themen interessieren, Dinge weit außerhalb seines Fachgebietes und Erfahrungshorizonts, er hatte mit Sicherheit etwas darüber gelesen oder konnte es zumindest mit etwas assoziieren, worüber er schon Mal einen Ausstellung gemacht hatte oder mit dem er sonst wie in Verbindung gekommen war. Vielleicht noch viel wichtiger, er interessierte sich für alles und wollte immer mehr erfahren. Dabei spielte es für ihn eben keine Rolle, ob die Person, mit der er sich unterhielt ein altgedienter Museumsdirektor war oder eine Studentin im zweiten Semester. Er war immer neugierig, im besten Sinn das, was man als „wissensdurstig“ bezeichnen kann und für ihn zählte der Mensch mit dem er sich unterhielt und dessen Kompetenz, nicht der formelle Abschluss oder Rang in einer bürokratischen Hierarchie.

Während ich das schreibe, fällt es mir schwer die nüchterne Fakten von dem Einfluss, den sie auf mein Leben hatten zu trennen. Er war mein Diplombetreuer und obwohl er sich mit Websites überhaupt nicht auskannte, haben die Diskussionen mit ihm das Endergebnis viel genauer und umfassender gemacht, als ursprünglich geplant. Noch heute prägen mich sein strukturiertes Vorgehen und der Ansatz, die Fragen zu stellen, die vielleicht nicht auf den ersten Blick offensichtlich sind. Schon als Studentin hat er mich als Projektassistentin in eines seiner Aussstellungsprojekte (von denen er immer zumindest eines außerhalb seines Lehrauftrags laufen hatte) gebracht und wahrscheinlich habe ich meinen heutigem Job auch der Tatsache zu verdanken, dass mich der damalige Job in die entlegensten Ecken Brandenburgs führte, um dort Datenbankprobleme zu beheben. Jahre später, als er kurzfristig einen Vortragstermin bei einer Tagung nicht wahrnehmen konnte, erklärte er den Veranstaltern kurzerhand: „In dem Museum arbeitet doch die Kipp, die kann das.“ Und so fand ich mich in der absurden Situation, in einem Haus, in dem meine Rolle eigentlich strikt auf die Arbeit hinter den Kulissen beschränkt war, plötzlich einen Wilderotter-Vortrag zur Ausstellungsorganisation zu halten.

Aus den unzähligen Erinnerungen gibt es eine, die für mich am besten veranschaulicht was für ein Mensch Hans Wilderotter war:

Das Hauptquartier des schon erwähnten Ausstellungsprojektes war Potsdam, ich wohnte damals so ziemlich am anderen Ende von Berlin und so ich habe ihn ab und zu bei ihm zu Hause abgesetzt, wenn wir zur gleichen Zeit Feierabend gemacht haben. Ich sehe ihn noch wie heute neben mir auf dem Beifahrersitz, von Assoziation zu Assoziation springend, von Detailplanungen zu einem Veranstaltungsort zu Betrachtungen über die Wortherkunft eines Begriffs und wieder zurück oder weiter zur Charakteranalyse eines Mitarbeiters und plötzlich sagte er: „Und sagen Sie [Name eines Projektmitarbeiters] morgen unbedingt, dass sein rechtes Bremslicht kaputt ist.“ Ich hatte zwar wahrgenommen, dass beim Wagen vor mir ein Bremslicht nicht funktionierte, aber nicht, dass das Auto einem unserer Kollegen gehörte. Zeitgleich verhinderte gerade ein genereller Ausgabenstopp des Landes, dass Rechnungen von Freiberuflern bezahlt wurden. Von irgendeinem anderen Thema her springend kam er darauf zu sprechen und bot mir an, mir Geld zu leihen, falls mich das irgendwie in Schwierigkeiten bringen würde. Diese Heimfahrt (Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es wirklich auf der gleichen Fahrt war oder ob mein Hirn mir Streiche spielt) ist für mich Hans Wilderotter „in a nutshell“, die Essenz dessen, was ihn für mich ausgemacht hat: Neben dem beinahe enzyklopädischen Wissen diese unglaubliche Aufmerksamkeit für die Dinge, die um ihn herum passierten, gepaart mit einer tiefen Empathie für die Menschen, mit denen er zusammenarbeitete.

Es wird lange dauern, bis ich mich an den Gedanken gewöhnt haben werde, dass er nicht mehr da ist. Er lebt weiter in unzähligen Erinnerungen, klugen Beobachtungen, witzigen Bemerkungen, in vielem, was ich tagtäglich in meinem Job tue.

Und wenn ich ihn jetzt vor mir sehe, dann mit einem leicht amüsierten Gesichtsausdruck und einem schelmischen Funkeln in den Augen, als wolle er sagen, dass es schon unglaublich ist, dass man so viel wirres Zeug in so kurzer Zeit zusammenschreiben kann und das alles nur, weil er gestorben ist. Ich kann beinahe hören wie er fragt, ob es denn nichts wichtigeres zu tun gab an einem Sonntagmorgen.

Nein, Wilderotter, gab es nicht und ich würde noch viele Sonntagmorgen opfern wenn wir nur noch einmal miteinander reden könnten.

Mögen Sie in Frieden ruhen und wenn eine der Religionen recht hat in der es ein Leben nach dem Tod gibt, dann freue ich mich jetzt schon auf die Geschichte, warum Sie zu spät zur Auferstehung kommen.

In tiefem Respekt und Dankbarkeit

Angela Kipp

16 Gedanken zu „In Memoriam Professor Hans Wilderotter“

  1. Liebe Angela,
    danke für Deinen Nachruf auf Wilderotter, der treffender kaum hätte sein können. Anekdoten und Geschichten mit ihm fallen mir auch jede Menge ein – und alle sind geprägt von Witz und Herzlichkeit.
    Dass er deutsche Tugenden nicht überbewertet und gelebt hat, hat ihn mir von Anfang an sympathisch gemacht 🙂 Ich gehöre ja mit zum ersten Jahrgang des Studienganges Museumskunde und kann sagen, dass ohne Wilderotter (und Einholz) aus dem Ding nichts geworden wäre – um es flapsig zu formulieren …
    Die vielen Projekte während des Studiums und auch danach zusammen mit ihm waren eine Bereicherung.

    Schade, dass wir ihn nicht mehr erleben können …

    Herzlich

    Peter

  2. Liebe Angela,

    erst gestern hörte ich durch eine Freundin von seinem plötzlichen Tod und lese nun diese wirklich wundervollen, tröstenden Worte von Dir. Herzlichen Dank dafür! Besser hätte man ihn nicht beschreiben können und auch ich habe ihn so in Erinnerung… immer mit wehendem Haar, zutiefst sympathisch, humorvoll, enorm gebildet, wendig und immer fair.

    Liebe Grüße
    Leif Dieckmann

  3. Liebe Angela Kipp,
    auch ich danke sehr für diesen wunderbaren Nachruf, den ich aus vollem Herzen nachempfinden kann.
    Als Studentin des ersten Museumskunde-Jahrgangs in Blankenburg, habe ich seine Probe-Vorlesung gehört, wo er die Wichtigkeit der Sammlungsdokumentation damit demonstrierte, dass er die Kaffeetasse, über die er vorher referierte, laut scheppernd am Boden zerbersten ließ. Und hatte spätestens da die volle Aufmerksamkeit.
    Während meiner Diplomarbeit verabredete ich mich zu Terminen nur in Bibliotheken mit ihm, da er immer zu spät kam und ich so weiter arbeiten konnte. Trotzdem konnte ich mir keinen besseren Betreuer vorstellen.
    Unvergessen wie informativ und witzig selbst die improvisiertesten Vorträge zu seinen Ausstellungsprojekten waren. Wusste er noch fünf Minuten vorher nicht, was er sagen wollte, lief er nur einmal den Flur hoch und runter und fesselte dann eine Stunde seine Zuhörende.
    Ich durfte bei zwei Ausstellungen mit ihm zusammen arbeiten, er holte mich zu Datenbank-Vorlesungen an die FHTW und mochte meine Tabellen.
    Traurige Grüße – aber mit vielen schönen Erinnerungen und in Dankbarkeit

    1. Liebe Katrin Mundorf,
      vielen Dank für die schönen Erinnerungen.
      Ja, Sie sind auch ab und an in seinen Vorlesungen aufgetaucht – verbal und mit sehr großem Respekt. Mit guten Tabellen konnte man ihn definitiv beeindrucken und von Ihnen hat er sehr viel gehalten.
      Und ja, die Antrittsvorlesung ist legendär. Schade dass ich dafür ein paar Jährchen zu spät dran war. ich glaube, wir waren der dritte Studiengang.
      Herzliche Grüße und alles Gute!
      Angela Kipp

  4. Liebe Frau Kipp, diese schönen Zeilen haben auch mich sehr bewegt. Vielen Dank!!

    Für mich ist Herr Wilderotter der Wegbegleiter, der mir Mut und Selbstbewusstsein zugesprochen hat, der mich gehört und gesehen hat, der mit mir gelacht und gezittert hat. Ich danke Herrn Wilderotter dafür, dass ich meinen beiden Kindern heute von ihm erzählen darf.

    1. Liebe Frau Thiemann,
      herzlichen Dank für Ihren Kommentar, ich kann Ihre Worte nur unterschreiben.
      Ihre Mail habe ich auch erhalten, aber ich bin zur Zeit viel unterwegs und beruflich stark eingebunden, was telefonieren schwierig macht.
      Per Mail aber gerne, allerdings kam meine Mail an Sie zurück.
      Herzliche Grüße
      Angela Kipp

  5. Liebe Angela,
    Dein Nachruf für „unseren“ Wildeotter hat mich tief berührt und bewegt mich noch heute. Christiane hat ihn mir gestern vorm Zubettgehen gesendet… die Nacht war dann kurz. Es arbeitet in mir.
    In der Hoffnung, dass es Dir gut geht schicke ich Dir sehr liebe Grüsse.
    Herzlich Astrid

    1. Liebe Astrid,

      schön von Dir zu lesen und schön zu sehen, wie sich die traurige Nachricht über alte und neue Netzwerke verbreitet und uns alle wieder ein Stück zusammenbringt.
      Mir geht es so gut, wie es einem in der momentanen Weltlage gehen kann und ich hoffe, dass es dir auch so geht.

      Herzliche Grüße
      Angela

  6. Liebe Frau Kipp,
    ich habe ihn noch erlebt als die HTW noch FHTW war und ich habe die gleichen Bilder vor mir wie Sie sie so trefflich beschrieben haben.
    Auch ich war geschockt als ich es erfuhr und ja, man rechnet nicht damit weil man nicht möchte, dass etwas endlich sein könnte.
    Ich habe auch noch eine kleine Anekdote: als ich ihn einmal fragte, wie ich ihn in der schriftlichen Kommunikation ansprechen sollte, Prof. Dr., denn ich ging davon aus, dass er promoviert hat, sagte er in seiner bescheidenen Art und mit seinem verschmitztem Lächeln: „Ach, Frau Föllmer, ich weiß doch schon alles. Was braucht es dazu noch eine Doktorarbeit.“

    Liebe Frau Kipp, mich haben Ihren Worte buchstäblich zu Tränen gerührt; besser hätte man es nicht ausdrücken können.
    Wir können und werden ihn nie vergessen.

    Haben Sie herzlichen Dank für diese respektvollen Worte und Ihre Gedanken.

    Herzliche Grüße,
    Ramona Föllmer

    1. Liebe Frau Föllmer,

      vielen Dank für die schöne Anekdote.
      Ja, das war typisch Wilderotter, mit der wunderbaren Fähigkeit, sich selbstbewusst selbst nicht so wichtig zu nehmen.
      Zu meiner Zeit war es auch noch die FHTW und wir saßen in Blankenburg, in heruntergekommenen Baracken, fern ab von den Museen.
      Man muss aufpassen, nicht ins nostalgische Verklären zu verfallen, aber es war eine gute Zeit, alles in allem.
      Vielen Dank für Ihre Zeit zu lesen, zu kommentieren und zur Erinnerung beizutragen.

      Herzliche Grüße
      Angela Kipp

    2. Auch mein großer Dank an Angela Kipp. Genauso war er und wie gut, dass es Menschen gibt, die trotz der traurigen Lage die exakt treffenden Worte finden, die nicht nur faktisch sind, sondern dennoch so warm und witzig und nah gehen! Alles Liebe!
      PS: es ist wirklich lustig und schön, wie dadurch das alte Netzwerk wieder erwacht. Deshalb poste ich unter Ramonas Post. Wir haben uns damals kennen gelernt, als ich mein Vorpraktikum für Museumskunde in der Antikensammlung gemacht habe 2007. Fast zwanzig Jahre her…Ich hoffe dir geht’s auch gut! Liebe Grüße, Nadine

  7. Ich lese diesen wundervollen Nachruf in einem Raum im Etihad Museum in Dubai voller Studenten, die ich eigentlich gerade unterrichte…. Aber meine Gedanken sind in Oberschöneweide oben im Raum unter dem Dach und Herr Wilderotter erzählt uns Geschichten über den Einsteintum, Walther Rathenau und die Seuchenausstellung … vielen Dank für alles Herr Wilderotter wir werden Sie nie vergessen.
    Und vielen Dank liebe Angela für die wunderschönen Worte.

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